Sachmangelbegriff bei Pharmaprodukten // Concept of material defect of a pharmaceutical product

11. Dezember 2023 Ellen Bergmann, LL.M.

Bereits begründete Anhaltspunkte für Nichteinhaltung von EU-Leitlinien können Sachmangel begründen // Already justified indications of non-compliance with EU guidelines can constitute material defects

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat in seinem Urteil vom 25.5.2023 (13 U 72/22) festgestellt, dass bereits der begründete Verdacht der Nichteinhaltung auch von nicht ausdrücklich im Vertrag geregelten EU-Leitlinien einen Sachmangel der gelieferten Medikamente insbesondere hinsichtlich der Handelbarkeit begründen kann.

In its judgement of 25 May 2023, the Higher Regional Court of Stuttgart found that a reasonable suspicion of non-compliance with EU guidelines, even those that are not expressly regulated in the contract, can constitute a material defect of the medicines supplied, particularly with regard to marketability.

(English version below)

Zur Eignung für die gewöhnliche Verwendung im Sinne von § 434 II 1 Nr. 2 BGB zählt bei für den Verkauf bestimmten Waren auch deren Verkehrsfähigkeit. Arzneimittelrechtlich sind Arzneimittelgroßhändler unter anderem dazu verpflichtet, die EU-Leitlinien für Gute Vertriebspraxis (GDP-Leitlinie) einzuhalten. Liegen begründete Anhaltspunkte dafür vor, dass diese Leitlinien nicht eingehalten werden, kann das Arzneimittel mangelhaft sein, und zwar in Form fehlender Handelbarkeit. Dabei genügt es, wenn die Großhändlerin aus Sicht ihrer Abnehmer nicht mehr die Gewähr für ihre Zuverlässigkeit und Einhaltung der EU-Leitlinien bieten kann. Dabei spielt auch die Wahrnehmung der Endverbraucher eine entscheidende Rolle, etwa wenn ein Großteil der Endkunden das Medikament nicht mehr kaufen würde. Interessant an dem Urteil ist vor allem die Feststellung, dass diese Besorgnis und damit die Mangelhaftigkeit auf Medikamente ausstrahlen kann, die nicht unmittelbar betroffen sind und bezüglich derer kein offizieller Rückruf vorliegt. Der Verdacht auf Gesundheitsgefährdung ist dabei für die Annahme des Sachmangels des Arzneimittels nicht zwingend erforderlich. Bereits die Unverkäuflichkeit aus anderen Gründen, einschließlich des Verdachts von Verstößen gegen arzneimittelrechtliche Vorschriften oder Compliance-Regeln, kann für die Begründung eines Mangels genügen. Ausreichend ist auch, wenn die den Verdacht begründenden Umstände erst nachträglich offenbar werden, sofern sie bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorlagen. Im Falle eines Rücktritts vom Vertrag ist eine Mangelrüge überflüssig und die Fristsetzung entbehrlich.

Dieses Urteil bestätigt die Wichtigkeit der Einhaltung von Leitlinien und – weitgreifender – auch dem Stand der Technik, selbst wenn die Einhaltung dieser Regeln nicht ausdrücklich vertraglich vereinbart wurde und stellt einen unmittelbaren Bezug zwischen der Besorgnis von deren Nichteinhaltung und einem Sachmangel her. Der abnehmende Großhändler und Endverbraucher dürfen erwarten, dass der liefernde Großhändler sämtliche gesetzliche Regelungen, einschließlich EU-Richtlinien, einhält.

English Version

Suitability for the intended use within the meaning of Section 434 II 1 No. 2 BGB includes the marketability of goods designated for sale. Under pharmaceutical law, pharmaceutical wholesalers are, among others, obliged to comply with the EU Guidelines on Good Distribution Practice (GDP Guideline). If there are well-founded indications that these guidelines are not being adhered to, the medicinal product may be defective, namely in the form of a lack of marketability. It is sufficient if the wholesaler can no longer guarantee its reliability and compliance with the EU guidelines from the perspective of its customers. The perception of end consumers also plays an important role for that question, for example if a majority of consumers would no longer buy the medicine. What is particularly interesting about the judgement is the finding that this concern, and therefore the defectiveness, can extend to medicines that are not directly affected and for which there is no official recall. The suspicion of a health risk is not absolutely necessary for the assumption of a material defect of the medicinal product. Lack of marketability for other reasons, including the suspicion of violations of pharmaceutical regulations or compliance rules, may be adequate to justify a defect. It is also sufficient if the circumstances giving rise to the suspicion only become apparent at a later date, provided they already existed at the time of the transfer of risk. In the event of cancellation of the contract, a notice of defect is superfluous, and the setting of a deadline is unnecessary.

This judgement confirms the importance of compliance with guidelines and – even more – the state of the art, even if such compliance was not expressly contractually regulated. The purchasing wholesaler and the end consumer can expect the supplying wholesaler to comply with all legal regulations, including EU directives.